Die Möglichkeit einer Insel

Arno Geiger ist einer der großen deutschsprachigen Schriftsteller unserer Zeit. Groß nicht nur in Hinblick auf sein literarisches Können, sondern auch auf seine Perspektive, den Menschen als Maß aller Dinge zu sehen: in seiner Verletzlichkeit, seinem Kampf um Würde, seinem Schrecken und nicht zuletzt seiner Fähigkeit, gegen alle Widerstände zu lieben.

In Arno Geigers neuem Roman Unter der Drachenwand ist die Liebe das menschliche Movens in einer unmenschlichen Zeit. Die Liebe zwischen dem Soldaten Veit Kolbe und Margot aus Darmstadt, die 1944 im Ort Mondsee Wand an Wand im Haus einer bösartigen Nazi-Vermieterin wohnen. Veit kuriert seine an der Ostfront erlittenen Verletzungen aus und bekämpft seine Angstzustände und Depressionen wahlweise damit, Pervitin zu schlucken oder Tagebuch zu schreiben. Die „Reichsdeutsche“ Margot ist mit ihrer kleinen Tochter, noch ein Säugling, vor den Schrecken des Krieges geflohen, die Liebe zu ihrem Mann, irgendwo an der Front, ist erloschen. In Mondsee im Salzkammergut, unter der Drachenwand, finden die beiden, inmitten des Weltenbrands, ihren Hortus conclusus und zueinander. Es ist ein fragiles, stetig bedrohtes Idyll, das sich, von Geiger behutsam beschrieben, erst langsam entwickelt, aber die Hoffnung in sich birgt, auch den Krieg zu überdauern. 

„Zwei, die für einige Zeit ihre Ruhe gefunden hatten, eine Ruhe, die nicht, wie so oft, mit Verlassenheit zu tun hatte, sondern mit Geborgenheit. In der Früh beim Kaffeetrinken, das Kind krabbelte am Boden, Margot saß am Tisch und hielt die Windeln des Kindes durch ständiges Stopfen am Leben, neue waren nicht zu bekommen, ein weiteres Zeichen dieser Glanzzeit. Ich lehnte am Fenster, wir redeten über Allfälliges. Mehr passierte nicht. Und ich weiß, es sind schon ereignisreichere Geschichten von der Liebe erzählt worden, und doch bestehe ich darauf, dass meine Geschichte eine der schönsten ist. Nimm es oder lass es.“

Veit und Margot sind jedoch nicht die einzigen Romanfiguren, die lieben. Da ist zum Beispiel auch die junge Nanni Schaller, die in begeisterter Zuneigung zu ihrem Cousin entbrannt ist und eines Tages spurlos verschwindet. Oder die neben Ich-Erzähler Veit wichtigste Erzählstimme, Oskar Meyer. Der jüdische Zahntechniker, der mit seiner Familie aus Wien nach Budapest flüchtet, klammert sich bis zuletzt an das bunte Seidentuch seiner verschollenen Frau. 

In Arno Geigers Roman Alles über Sally heißt es „Heute ist das Leben besser als sein Ruf“. Auch im aktuellen Buch stehen Sätze wie in den Fels der Drachenwand gemeißelt. Einer davon lautet „Im Grunde sind alle Menschen seltsam.“ Menschen und Orte, möchte man hinzufügen. Schwarzindien zum Beispiel, eine Gegend, die wirklich existiert und im Roman ein Lager der Kinderlandverschickung benennt, in dem Mädchen wie Nanni untergebracht sind. Seltsam und exotisch mutet ebenfalls der „Brasilianer“ an, der ein Gewächshaus betreibt, seinen Hund vegetarisch ernährt und Veit von der Schönheit und Intensität seiner südamerikanischen Erlebnisse erzählt. Auch das eine Insel der Möglichkeiten, eine Gegenwelt, die den Widrigkeiten des Krieges die Stirn bietet. 

Der Krieg kommt bei Arno Geiger nicht gut weg und das ist auch gut so. Kein Platz für Heldengeschichten und Ostfrontmythen, eher im Sinne von Rilkes Requiem: „Wer spricht von Siegen? Überstehn ist alles.“ Oder in den Worten von Veit: „Als Kind der Gedanke: Wenn ich groß bin. Heute der Gedanke: Wenn ich es überlebe. Was kann es Besseres geben, als am Leben zu bleiben?“ 

Krieg ist in der Drachenwand „das Wimmern, das Stöhnen, der Geruch der unzureichend versorgten Wunden, der verschmutzten Körper“, mithin die Essenz des Inhumanen. 

Der Freie Deutsche Autorenverband (FDA) hat Arno Geiger auf der Leipziger Buchmesse 2017 mit dem Literaturpreis für Toleranz, Respekt und Humanität ausgezeichnet. Grundlage dieser Preisverleihung war der Roman Der alte König in seinem Exil, in dem der Autor die Demenzerkrankung seines Vaters ebenso versiert wie empathisch schreibend verdichtet. In Unter der Drachenwand gelingt ihm ein ähnliches Meisterstück, groß gedacht und souverän erzählt. Der Vorarlberger wandelt damit nicht zuletzt auch auf den Spuren von Heinrich Böll und seiner Ästhetik des Humanen in der Literatur, in der es heißt: „Ein Autor sucht Ausdruck, er sucht Stil, und er hat mit dem schwierigen Geschäft zu tun, die Moral des Ausdrucks, des Stils und der Form mit der Moral des Mitgeteilten übereinzubringen.“ 

Arno Geiger: Unter der Drachenwand. Carl Hanser Verlag, München 2018 (480 Seiten, gebundene Ausgabe 26,00 €, Kindle Edition 19,99 €). 

Nachtfahrt oder Cologne Taxi Driver

Ganz am Ende des grandiosen Fototagebuchs Nachtfahrt – Ein Taxi Blues schreibt Josef Šnobl, Künstler und Taxifahrer, Fotograf und Literat in Personalunion, den grandiosen Satz „Die Verlierer sind unsere Doppelgänger“. 

25 Jahre Taxifahren machen also weise und zeigen, dass zwischen Menschen immer und zu jeder Zeit alles möglich ist: Gewalt und Zärtlichkeit, Verzweiflung und Freude, Geschwätz und gute Gespräche, Hass, Liebe und Erotik – das alles verdichtet in dem „metallenen Sarg“, wie Paul Schrader das Taxi einmal genannt hat. Das war übrigens zu der Zeit, als er das Drehbuch zu einem Film namens Taxi Driver geschrieben hat. Und wenn man den Taxi Blues durchblättert, da bekommt man nicht nur ab und zu mal den Blues, sondern sieht Robert De Niro vor seinem geistigen Auge und den Dampf der Underground Railroad durch die Kanaldeckel glosen. Es ist zwar nicht New York, sondern nur Köln, aber diese 240 Seiten legen vor allem eindrucksvoll Zeugnis ab von Licht und Schatten der Großstadt. Taxifahren ist ein urbanes Phänomen so wie Faustkampf und Jazz, eine Welt mit eigenen Regeln, eigenen Codes und einem existentialistischen Ethos. Doch lassen wir einfach den in Prag geborenen Wahlkölner zu Wort kommen:

„Ich habe nie in einer Kleinstadt oder in einem Dorf gelebt; immer nur in der Großstadt. Ich liebe die Individualität der Bewohner, ihren Stolz, und ich schätze die Anonymität. Große Städte haben eine große Geschichte, und man wird ein Teil davon. Die Großstadt ist verrucht, vielfältig und immer in Bewegung. In einer Metropole Taxi zu fahren, hat etwas Erhabenes.“

Diese ersten Zeilen des Kapitels Die Stadt (Seite 24) geben den literarischen Duktus vor, das gegenüberliegende Foto den visuellen: tiefschwarze Nacht dominiert, in diffuses Licht getaucht, fast abstrakt und nur noch in Umrissen erkennbar, wabert der Kölner Dom. Mit einer kleinen Taschenkamera fotografiert, sorgen die hohe Filmempfindlichkeit und die langen Belichtungszeiten für das Grobe und Unscharfe der Aufnahmen, verleihen ihnen etwas Rätselhaftes, Sinistres, manchmal latent Bedrohliches. Mit der Nacht und ihren Geheimnissen ist ja schließlich auch nicht zu spaßen: Last Night a DJ Saved My Life!“ 

Viele Fotos üben eine fatale Sogwirkung aus, oft sind sie suggestiv, manche zum Sterben schön wie die Aufnahme der Boxerkneipe Klein Köln in der Friesenstraße (Seite 177). Hier wurden damals die Kämpfer gewogen, bevor es dann gegenüber in den Sartory-Sälen zur Sache ging. Vielleicht waren unsere Nächte früher ja heller als die Tage heute. Šnobls Nachtfahrten zwischen 1988 und 2013 sind jedenfalls immer auch eine Zeitreise durch die Rheinmetropole, die einmal härter und ungehobelter wirkte mit viel Rotlicht dazwischen. Auch von solchen Fahrten berichtet der schreibende Fotograf mit einer Schwäche für seinen philosophischen Landsmann Vilém Flusser. Ja, es stimmt, was der Emons Verlag behauptet: Köln hat man so noch nicht gesehen.

Das gilt übrigens auch für dieses Buch, diesen faszinierenden Hybriden in Form eines schwarzen Monolithen. Gestalterisch, grafisch und haptisch hat der Emons Verlag Mut bewiesen und wird dafür hoffentlich belohnt werden. Von Reinhard Matz mit sicherer Hand herausgegeben, wartet die Nachfahrt noch auf den zweiten und dritten Blick mit Überraschungen auf. So ist zum Beispiel jedem Kapitel ein entsprechender Song zugeordnet, den man sich durch Scannen des QR-Codes auf Spotify zu Gemüte führen kann. De Facto also Texte, Bilder, Töne und als vierte Dimension das viele, intensiv riechende, Schwarz im Buch: eine sinnliche Sinfonie der Großstadt. Zum Schluss noch einmal ein wenig Wortlaut aus dem Taxi Blues:

„Die Großstadt ist zwischen vier und sechs Uhr morgens am schönsten; gesetzlos und wild, die Zeit ist aufgehoben. Jeder Nachtfahrer kann davon einen Blues singen.“

Josef Šnobl: Nachtfahrt – Ein Taxi Blues. 240 S. mit ca. 240 Fotos, hg. von Reinhard Matz. Köln, Emons Verlag 2019. 25,00 Euro.